Biografie Jakob Streit

Das lange und reiche Leben von Jakob Streit lässt sich nicht in seiner ganzen Fülle würdigen. Es umfasst eine fast 100-jährige Zeitspanne durch anspruchsvolle, dramatische Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hindurch bis zu seinem Schwellenübertritt am 15. Mai 2009.

 

Jakob Streit wurde zur Tag- und Nachtgleiche am 23. September 1910 um die Mittagszeit in Spiez als Sohn eines Uhrenmachers  und einer sprachlich sehr begabten Mutter geboren. Er war das zweitjüngste von 6 Geschwistern.

 

Er selbst berichtet mit folgenden Worten über einige Lebenserinnerungen:

 

Als Knabe habe ich oft mit einem gleichaltrigen Freund am Spiezberg Ziegen gehütet, wir haben in den Bäumen am Waldrand gesungen und sind im See geschwommen. Mit Schlitten und Schlittschuhen tummelte man sich im Winter auf der Dorfstrasse, denn da fuhren noch keine Autos.

So erlebte ich eine naturfreudige und heitere Jugend.

Doch ich lernte auch die ernste Seite des Lebens kennen, als plötzlich im 12. Lebensjahr ein gleichaltriger Jugendfreund durch eine Infektion starb. Eine tiefe Erschütterung erfasste mich am Sarg bei brennenden Kerzen.

 

Mit 10 Jahren erhielt ich von meinem Vater ein Bienenvolk geschenkt, das er mich pflegen lehrte. Anfangs wurde ich viel gestochen, weil ich Sanguiniker war. Die Bienen lehrten mich, mein Temperament etwas zu zügeln.

Um diese Zeit kündete Vater das von ihm verpachtete Land mit Scheune und stellte meinem älteren Bruder und mir eine Kuh in den Stall. So war ich vom 10. Altersjahr an Kleinbauer und der Gehilfe meines Bruders.

 

Die Schule war mir oft langweilig. Wenn ich an einem Lehrer etwas bewundern durfte, war ich aber dabei.

 

An den Thunersee waren im 7. Jahrhundert die irischen Glaubensboten Beatus und Justus gekommen und brachten das Christentum aus dem Nord-Westen. Von ihnen hörte ich erzählen. Öfters war ich bei einer Grosstante in Hondrich auf Besuch, die noch Wolle am Spinnrad spann und dazu von alten Zeiten und von seltsamen Ereignissen erzählte, von Geisterspuk und Vertreibung böser Geister, von Geisterspuk und Vertreibung böser Geister.

Sie brachten mir das Fürchten.

 

Als Knabe war ich sehr schlank und hatte wenig physische Kräfte. Einmal nach überanstrengter Bootsfahrt, bei der ich über meine Möglichkeiten Kräfte einsetzte, erlitt ich am Abend, im 12. Altersjahr, eine Herzattacke, die mich eine Weile ans Bett fesselte. In meiner Schwäche kamen Todesgedanken. Mutter gab mir zum Lesen ein Neues Testament mit Zeichnungen von Schnorr von Carolsfeld. Bilder und Texte aus dem Leben Christi liessen in mir eine innere Schicht aufbrechen, die mir eine tiefe Beziehung zur geistigen Welt vermittelten. Nach meiner Genesung blieb in mir eine nach aussen verborgene Frömmigkeit. Mehr und mehr schloss ich andere Menschen in mein Gebet ein. So trug ich fortan in mir  zwei  Schichten: ein inneres Leben der Geistverbundenheit, das ich keinem Menschen offenbaren konnte und ein fröhliches Naturell aufgelegt zu Lustigkeit und Welterleben.

 

Eigentlich wäre ich gerne Uhrenmacher geworden, übte mich zeitweise an alten Uhren in der Feinmechanik, aber mein älterer Bruder hatte das Vorrecht.

Von mir aus lernte ich auf Instrumenten meiner Schwestern Klavier spielen, Gitarre und Mandoline, dazu durfte ich Violinunterricht besuchen. So kam man auf den Gedanken, der Jakob könnte ins Lehrerseminar.

Als ich zwei Wochen im Seminarinternat Hofwil bei Bern war, starb unerwartet mein Vater an einem Schlaganfall. Alle sechs Kinder umstanden wir das Sterbebett. Alle Lasten des Geschäftes, der Ausbildung der Kinder kamen nun auf meine Mutter.

Meine Liebe zu ihr und meine Bewunderung, da sie sich im Geschäft englisch und französisch mit den Touristen unterhalten konnte, verinnerlichte sich. Wo es ging, versuchten wir mit zu tragen, uns einzuschränken.

 

Der Seminar-Musiklehrer, Hans Klee (Vater des Malers Paul Klee), ein Greis mit weissem Bart, war eine gefürchtete Autorität alten Stils. Falsche Töne konnten ihn zum Toben bringen. Doch als ich nach Vaters Tod wieder ins Seminar kam, gab er mir von sich aus privat von Zeit zu Zeit in der Mittagsstunde Gesangsunterricht. Er führte mich ein am Klavier in Lieder von Schubert, Schumann und Mozart. Er wurde mir, trotz seines Zeus-Zornes, ein bewundertes Vorbild, weckte in mir auch den Sinn für Rezitation und Poetik. Aber - - er war überzeugter Darwinist, Häckelianer und Freidenker.  An seinen unerbittlichen Argumenten zerbrach nach und nach unter innerem Ringen mein Kinderglaube, denn ich war bereit, für die Wahrheit alles zu opfern.

 

Im Oberseminar, wo kein Hans Klee unterrichtet, gab der Theologe  Friedrich Eymann Religionsunterricht. Er war zugleich an der Universität Professor und hatte sich in die Anthroposophie Rudolf Steiners eingearbeitet. In seinem christlichen Weltbild und Unterricht hatten auch Darwin und Häckel Platz, was mich tief beglückte und mich viel freier machte als der vorherige Schatten des Atheismus. Eymann nahm alle unsere Fragen entgegen und wich nie aus. Er wurde nun ein Mentor für Kunst, Religion, Wissenschaft und Pädagogik. Nach dem Lehrerseminar wurde aus dem Lehrer – Schülerverhältnis eine Lebensfreundschaft.

Als junger Lehrer, noch ohne Anstellung erwarb ich das Orgeldiplom. Nach Stellvertretungen kam ich 1931 an die Dorfschule in Bönigen am Brienzersee.

 

Auf vier Ebenen baute sich mir das Leben:

 

Die erste: Schule halten, dass die Kinder mit Freude und Arbeitswillen dabei sind.

Die zweite: Künste pflegen, Musik, Rezitation, Malen, Dramatisieren, wozu ich an pädagogischen Tagungen am Goetheanum  sehr viele Impulse aufnehmen konnte, um sie später in der Provinz in die tägliche Arbeit einzubringen.

Die dritte: Studium von Philosophen, Goethes Naturwissenschaft, Anthroposophie, Geschichte.

Die vierte: Beobachtungen und Studien der Naturreiche. Bald entstanden daraus Erzählungen für die Schulkinder und erste schriftstellerische Versuche.

 

Seine ersten Bücher entstanden in der Schule im lebendigen Umgang mit wissbegierigen Kindern, die aber nach einer mehr poetischen Naturbetrachtung als nach kaltem Wissen verlangten. Jakob Streit wollte in diesen ersten Büchern die kleinen Leser, aber auch die erzählenden Eltern zur Natur zurückführen, den Künstler im Kind wecken., durch Staunen zu einem vertieften Natur- und Menschenverständnis führen. Hier trifft sich der Schriftsteller mit dem Lehrer, der schon bald erkennt, dass es viel einfacher wäre, bloss Köpfe zu unterrichten, als die lebendigen schöpferischen Kräfte zu wecken, zu lenken, zu bilden und die Kinderseele mit den grossen Bildern der Vergangenheit aus Mythen, Sagen, biblischer Geschichte und Geschichte zu erfüllen. Dabei schöpfte Jakob Streit immer von neuem aus dem Denken und der pädagogischen Haltung Rudolf Steiners, der nicht den Zeitgeist in den Vordergrund stellte, sondern das Wesen des werdenden Kindes. Auch die z.T. selbst verfassten Theateraufführungen wurden für die Schüler zu Erlebnisquellen. Vom Schultheater führte der Weg weiter ins Laientheater.

Jakob Streit inszenierte im Klosterhof Interlaken  während des 2. Weltkrieges Totentänze und 1945 „Antigone“ von Sophokles, die griechische Version des Elendes einer Diktatur.

Die dramatische Betätigung setzte setzte Jakob Streit fort als Regisseur der Tell-Freilichtspiele in Interlaken 1946 – 1952 und der Schloss Spiele Spiez 1959 – 1965.

 

Herausragend aus zahlreichen Lebensbegegnungen war für Jakob Streit die Begegnung mit Marie Steiner, deren Inszenierungen am Goetheanum ihm Lehr- und Leitbild wurden. Nach dem Tod von Marie Steiner 1948 setzte sich Jakob Streit mit weiteren Persönlichkeiten ein für den Impuls zur Gesamtausgabe der Werke von Rudolf Steiner durch die Rudolf Steiner Nachölassverwaltung  sowie für die Bereinigung der damit verbundenen Konflikte.

 

Dankbar schreibt er, dass seine vielseitigen Tätigkeiten auch dadurch möglich wurden, dass seine Frau Lucie, mit der er sich 1950 verheiratet hatte, ihm weithin die häuslichen Sorgen abnahm und ihn voll unterstützte. Durch die Geburten der 3 Kinder, Martin, Eva, Georg, kam sein Erzähltalent auch in die eigene Familie und seine allabendlichen Geschichten fanden später teilweise Eingang in seine Kinderbücher.

 

Ausgehend von Beatus wandte sich Jakob Streit dem Studium des irisch-keltischen Christentums mit Forschungsreisen nach Irland zu. Daraus entstand das kulturgeschichtliche Werk „Sonne und Kreuz“. Weitere Studienreisen durch Italien, Griechenland, Ägypten schlugen sich nieder in Erzählungen wie „Milon und der Löwe“, „Geron und Virtus“ sowie drei Bänden mit alttestamentlichen Erzählungen.

 

Im Jahr 1961 erfolgte die Wahl als Lehrer an die staatliche Schule in Spiez., wo er bis zu seiner Pensionierung unterrichtete.

Danach konnte eine breit gefächerte Vortragstätigkeit im In- und Ausland einsetzen mit pädagogischen, kulturellen und anthroposophischen Themen. Es entstanden weitere Jugendbücher, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden sind.

Jakob Streit schreibt:

"Dankbar blicke ich auf all' die Helfer, die hier tätig mitarbeiteten, auch als Illustratoren, Lektoren und Verlagsmitarbeiter."

 

1988/89 kam ein weiterer Auftrag auf Jakob Streit zu: Die Inszenierung / Regie von Mozarts "Zauberflöte" und von "Orpheus und Eurydike" von Gluck an den Festspielen im Chiemgau zusammen mit dem Dirigenten Hans Leonhardt.

Jakob Streit berichtet:

"Wir waren bestrebt, diese Werke in ihrer tiefen Geistigkeit zu bearbeiten, weg von allem Experimentieren und Modernisieren. Es war Gnade, noch im hohen Alter geistig schöpferisch tätig zu sein." Dies war in seinem 80. Lebensjahr. Die schöpferische Tätigkeit konnte über viele weitere Jahre fortgesetzt werden: als Vortragsredner, Autor, auch als Redaktor der Zeitschrift "Mitteilungen aus der anthroposophischen Bewegung" und in der anthroposophischen Zweigarbeit. Trotz allmählichen Abnahme der körperlichen Kräfte in den letzten Lebensjahren vertiefte er sich in neue Themen wie z.B. Niklaus von der Flüe und erlebte in seinem Enkelkind noch einmal ganz nah das Aufwachen einer Kinderseele. Er blieb geistig rüstig und tätig bis zu seinem Lebensende.

 

Auf sein Leben zurückblickend sagte Jakob Streit:

"Ich erlebte, dass die aus dem Christusgeist erschaffene Anthroposophie Rudolf Steiners tätige Schöpferkräfte weckte."  Er freute sich, in künftigen Erdenleben wieder mit dabei zu sein.